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Strafrechtliche Sanktionen

André Kuhn

Originalversion in französischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Das Strafrechtssystem, wie wir es heute kennen, basiert auf der Idee, dass die strafrechtliche Sanktion ein geeignetes Mittel zur Bekämpfung der Kriminalität ist. Die strafrechtliche Sanktion stellt dabei das Ergebnis eines gerichtlichen Verfahrens dar, das der Mensch als gesellschaftliche Reaktion auf unzulängliches und als Verbrechen ausgegrenztes Verhalten entwickelt hat. Die Ziele strafrechtlicher Sanktionen lassen sich in zwei grosse Kategorien einteilen, nämlich in moralische und utilitaristische Ziele. Zu den moralischen Zielen gehören die Sühne (die Läuterung der Seele, die durch die Begehung einer Straftat befleckt wurde) und die Vergeltung (die rächende Strafe für verwerfliches Verhalten). Diese moralischen Funktionen bringen keinerlei sozialen Nutzen. In Erwägung, dass jede strafrechtliche Sanktion für die Gesellschaft vorteilhaft sein und/oder durch ihre Ausführung eine «Lektion erteilen» sollte, werden zusätzlich utilitaristische Ziele verfolgt. Dazu gehören die Aufrechterhaltung des sozialen Zusammenhalts und des Kollektivbewusstseins (ein Durkheimscher Begriff, der sich auf die Machtausübung des Staats über die Individuen mittels Sanktio­nen bezieht), die Resozialisierung (die soziale Wiedereingliederung nach Massnahmen zur Verbesserung der sozialen Fähigkeiten des Individuums), die Einschüchterung (durch die abschreckende Wirkung der Sanktion auf die schuldige Person, damit sie nicht rückfällig wird, aber auch auf alle potenziell straffälligen Personen – das heisst auf uns alle – durch Einflössen einer gewissen «Angst vor der Polizei»), die Eliminierung (durch die Hinrichtung, Verbannung oder sehr lange Haft), die Wiedergutmachung (durch die Aufforderung oder den Zwang zur Wiedergutmachung des verursachten Schadens) und die Versöhnung zwischen Opfer und Täterschaft (durch einen Prozess der Versöhnung oder Mediation, der eher zur sogenannten restaurative Justiz gehört als zur bei uns vorherrschenden vergeltenden Justiz).

Die strafrechtlichen Sanktionen lassen sich in zwei Kategorien einteilen: einerseits die Strafen, andererseits die Massnahmen. Erstere sollen eine in der Vergangenheit begangene Handlung «bestrafen» und sind daher in der Regel in ihrem Umfang begrenzt, während Letztere von unbestimmter Dauer sind, da sie der besonderen Betreuung eines straffälligen Individuums dienen und daher so lange fortgeführt werden wie nötig. Reicht das Urteil (insbesondere seine einschüchternde und resozialisierende Wirkung) nicht aus, um die Gefahr abzuwenden, dass eine Person erneut eine schwere Straftat begeht, und benötigt die Person eine Behandlung oder stellt sie ein zu grosses Risiko für die Gesellschaft dar, so verhängt das Gericht zusätzlich zur Strafe eine stationäre therapeutische Massnahme oder eine Verwahrung. Im Gegensatz zu einem weitverbreiteten Irrtum haben diese Massnahmen keinerlei strafenden Charakter, da sie sich nicht auf die Vergangenheit der Person und die von ihr begangene Straftat, sondern auf die Zukunft sowohl der Person als auch der Gesellschaft beziehen.

Hinsichtlich der Strafen gibt es in der Schweiz seit dem 1. Januar 2018 Geldstrafen (bemessen in Tagessätzen, deren Anzahl der Schwere des Verschuldens entspricht, während ihre Höhe von der finanziellen Situation der bestraften Person abhängt), Freiheitsstrafen (deren Dauer ebenfalls vom Verschulden abhängt und deren Vollstreckung in Form von Haft in einer Strafvollzugsanstalt, Hausarrest unter elektronischer Überwachung oder gemeinnütziger Arbeit erfolgen kann) und Bussen (deren Höhe von der begangenen Straftat und der persönlichen Situation der verurteilten Person abhängt). Geld- und Freiheitsstrafen können unter bestimmten Voraussetzungen bedingt – bei Freiheitsstrafen auch teilbedingt – ausgesprochen werden, wodurch die Strafe teilweise oder ganz ausgesetzt wird, sofern während einer bestimmten Probezeit keine neue Straftat begangen wird. Der Strafaufschub dient in diesem Fall vor allem zur Abschreckung und lässt ein Damoklesschwert über der verurteilten Person schweben, das beim geringsten Verstoss fällt.

Im Bereich der Massnahmen gibt es in der Schweiz derzeit die sogenannten stationäre therapeutische Massnahmen (Behandlung von psychischen Störungen, Suchtbehandlung, Massnahmen für junge Erwachsene), die Verwahrung (ordentlich oder lebenslang), die ambulante Behandlung (ebenfalls Behandlung von psychischen Störungen und Suchterkrankungen, jedoch nicht stationär) sowie «andere Massnahmen» (einschliesslich Einziehung von Vermögenswerten, Landesverweisung sowie das Tätigkeits-, Kontakt- oder Rayonverbot).

Besonders interessant hinsichtlich der strafrechtlichen Sanktionen ist die Frage, ob das wichtigste Ziel der Sanktionen – die Eindämmung der Kriminalität – erreicht wird oder nicht. Einerseits zeigen kriminologische Untersuchungen, dass die Eliminierung (Ausweisung, Todesstrafe oder lebenslange Haft) äusserst geringe Erfolge erzielt, da die überwiegende Mehrheit der Straftaten von erstmalig straffälligen Personen begangen wird – die nicht im Voraus eliminiert werden können – und dass bei bestimmten Straftaten (unter anderem Drogenhandel, Auftragsmorde und sogenannte «terroristische» Handlungen) eliminierte Kriminelle sofort durch frisch auf dem Markt des organisierten Verbrechens angeheuerte ersetzt werden. Andererseits konnte aufgezeigt werden, dass unverhältnismässig scharfe strafrechtliche Sanktionen statt zur aufgrund der abschreckenden Wirkung erwarteten Verringerung vielmehr zu einer Zunahme der Kriminalität führen können. In solchen Fällen enthemmt das negative Beispiel des Staates die potenzielle Täterschaft durch ein Phänomen, das als Brutalisierung bezeichnet wird. So wurde beobachtet, dass ein Staat, der Hinrichtungen durchführt, Individuen enthemmt, indem er sie in der Vorstellung bestärkt, dass Gewalt ein angemessenes Mittel zur Lösung von Konflikten sei, wodurch die Zahl der Gewaltverbrechen zunimmt. In bestimmten amerikanischen Bundesstaaten nahm die Anzahl der Morde nach der Wiedereinführung der Todesstrafe zu, während in benachbarten Staaten, die ihr Strafsystem nicht änderten, die Statistiken unverändert blieben. Analog ist es vorstellbar, dass in Ländern, wo Gefängnishaft die zentrale Rolle im Strafvollzugssystem spielt, gewisse Eltern das staatliche System reproduzieren und unfolgsame Kinder im Zimmer einsperren, wodurch sie sich der Freiheitsberaubung schuldig machen.

Es lässt sich nachweisen, dass die abschreckende Wirkung von Strafen zwar am unteren Ende der Skala funktioniert (etwa im Strassenverkehr, wo Geschwindigkeitsbegrenzungen und die Gurtentragpflicht weitgehend eingehalten werden), nicht aber am oberen Ende, wo sich die abschreckende Wirkung infolge Brutalisierung in eine Aufstachelung der Kriminalität umkehrt.

Literaturhinweise

Killias, M., Kuhn, A. & Dongois, N. (2016). Précis de droit pénal général (4e éd.). Berne: Stämpfli.

Kuhn, A. (2010). Sanctions pénales: est-ce bien la peine? Et dans quelle mesure? Charmey: Les Editions de l’Hèbe.

Kuhn, A. (2009). Peut-on se passer de la peine pénale? Un abolitionnisme à la hauteur des défis contemporains. Revue de Théologie et de Philosophie, 14(2), 179–192.

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