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Austerität

Christian Marazzi

Originalversion in italienischer Sprache


Erstveröffentlicht: December 2020

Unter dem Begriff «Austerität» wird eine streng restriktive Finanzpolitik des Staates verstanden, die eine Reduzierung der öffentlichen Ausgaben anstrebt, um durch die Sanierung des Staatshaushalts finanzielle Stabilität zu erzielen. Die Austeritätspolitik ist in der Regel Bestandteil einer Fiskalpolitik (nach angelsächsischer Definition), die auf einen ausgeglichenen Staatshaushalt abzielt. Aus der Sicht der einen ist das von der Austeritätspolitik angestrebte Haushaltsgleichgewicht die Voraussetzung für die finanzielle Nachhaltigkeit der Sozialpolitik; andere wiederum glauben, dass diese Politik von einer neoliberalen Weltsicht geprägt ist, wonach Regierungen und Staaten ebenso wie Bürgerinnen und Bürger durch die Märkte, insbesondere durch die Finanzmärkte, reguliert werden sollten und prangern die negativen Auswirkungen der dazu gehörigen Instrumente auf die Sozialpolitik sowie allgemein auf die Umsetzung der Sozialrechte an.

Zu den sogenannten «Austeritätsmassnahmen» gehören die «Überprüfung der öffentlichen Ausgaben» (Spending Review) zur «Optimierung» der staatlichen Leistungen, die Senkung der Sozialausgaben, insbesondere bezüglich Renten, Gesundheitsausgaben und Sozialhilfe und die Erhöhung der Steuerbelastung der Haushalte. Die häufigsten Folgen der Austerität sind steigende Arbeitslosigkeit, Rezession und sinkender Konsum. Dadurch, dass das Wirtschaftswachstum sich verlangsamt oder völlig zum Erliegen kommt, können Austeritätsmassnahmen zu einer Verringerung der Steuereinnahmen und damit paradoxerweise zu einer Erhöhung der Staatsverschuldung statt zu deren Abbau führen, obschon genau dies eigentlich das erklärte Ziel der Austerität ist.

Die Austerität steht im Rahmen der neoliberalen Wirtschafts- und Finanzpolitik, die sich Anfang der 1980er Jahre nach der Wahl von Margaret Thatcher in Grossbritannien und Ronald Reagan in den Vereinigten Staaten durchgesetzt hat. Diese neoliberale Wende hatte zum Ziel, den Sozialstaat, basierend auf dem Grundsatz der Selbstregulierung der Märkte, grundlegend zugunsten einer dominierenden Rolle des Marktes umzugestalten. Zu diesem Zweck wurde eine Strategie der leeren Kassen oder des armen Staats angewandt, die David Stockman, der Wirtschaftsberater von Ronald Reagan, in der griffigen Formel des «ausgehungerten Staats» (starving the beast) zusammenfasste. Im Rahmen dieser Strategie wurden die Staatskassen durch Steuererleichterungen zugunsten der Unternehmen und der hohen Einkommen geleert, um die politischen Instanzen zu Ausgabenkürzungen zu zwingen. Theoretisch hätten die dank Steuergeschenken freigesetzten flüssigen Mittel zu Steigerungen bei den Investitionen, dem Konsum und der Beschäftigung führen sollen. In Wirklichkeit trug diese Strategie aber dazu bei, die aufkommende Finanzialisierung zu beschleunigen, das heisst die Umleitung der Ersparnisse in die Finanzmärkte anstatt in produktive Investitionen. Seit den 1990er Jahren steht die Schweiz wie auch andere europäische Länder unter dem Einfluss derartiger neoliberaler Politiken, wie die Arbeiten von Sébastien Guex überzeugend nachweisen konnten.

Um Austeritätsmassnahmen im Sinne der sie unterstützenden theoretischen und politischen Kräfte umzusetzen, ist die Schaffung eines Ausnahmezustands nötig, der den Weg zur Umgehung demokratischer Kontrollprozesse ermöglicht und den Boden für den nötigen Konsens zur Umsetzung entsprechender Massnahmen vorbereitet. Die in der Schweiz geltende Schuldenbremse kann derart interpretiert werden. Die Krise von 2008, die in den Vereinigten Staaten begann und sich auf Europa ausbreitete, bot Gelegenheit, Austeritätsmassnahmen in die Praxis zu verwandeln (insbesondere vonseiten der Troika: Europäische Kommission, Europäische Zentralbank (EZB) und Internationaler Währungsfonds), die aufgrund des durch die Krise verursachten Ausnahmezustands unvermeidlich waren und durch internationale Abkommen wie den Fiscal Compact gestützt wurden. Während der Krise stützten die Staaten das Bankensystem mit massiven Hilfsprogrammen. Die starke Erhöhung der Staatsverschuldung und die Veräusserung der Schuldtitel an private Investoren hat die Staaten den Finanzmärkten und deren Regeln unterworfen, wodurch ein weiterer Grund entstand, die öffentlichen Ausgaben, insbesondere die Sozialausgaben, zu senken. Diese Umstände schufen ideale Bedingungen für die Realisierung dessen, was Naomi Klein die Schock-Strategie nennt: die Schaffung einer Ausnahmesituation, die es ermöglicht, auf Kosten demokratischer und sozialer Rechte Änderungen durchzusetzen, welche normalerweise politisch nicht realisierbar wären. «Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt», «der Staat steht kurz vor dem Bankrott», «die Renten und das Gesundheitssystem haben ein unhaltbares Niveau erreicht», «wir dürfen die Staatsverschuldung nicht unseren Enkelkindern aufbürden»: Dies sind die Argumente, die – ungeachtet jeder wissenschaftlich fundierten Analyse und jedes demokratischen Verfahrens – zur Rechtfertigung von Austeritätsmassnahmen vorgebracht werden.

Obwohl die Schweiz weder der Europäischen Union noch der Eurozone angehört, leidet sie unter den Auswirkungen der europäischen Austeritätsmassnahmen infolge des starken Drucks auf den Franken, der als Fluchtwährung betrachtet wird. Die in den EU-Mitgliedstaaten angewandten Austeritätsmassnahmen haben zur anhaltenden Rezession nach der Krise von 2008 beigetragen. Mit dem Rückgang des Konsums und der übrigen Nachfrage ging in den EU-Staaten kein Abbau der Staatsverschuldung einher, sondern vielmehr wurde in einigen Fällen ein Teufelskreis von Kürzungen der öffentlichen Ausgaben in Gang gesetzt, um die Bestimmungen der Troika zu erfüllen. Das Klima der Unsicherheit hinsichtlich der Zukunft des Euros hielt die Finanzmärkte angespannt und den Franken auf einem hohen Niveau, was die Schweizerische Nationalbank (SNB) dazu bewog, einen Mindestwechselkurs zwischen dem Franken und dem Euro festzulegen, den sie allerdings 2014 wieder aufgab, um die Franken-Interventionen zur Verteidigung der Kurslimite zu begrenzen. Einerseits die Zunahme in Umlauf befindlicher Franken und andererseits die Aufwertung des Frankens haben zu Druck auf die Lohn- und Arbeitsbedingungen in der Exportwirtschaft geführt. Auf diese Weise wurden die seit 2010 in Europa ergriffenen Austeritätsmassnahmen in die Schweiz importiert. Allerdings wurden bereits früher die Massnahmen zur Sanierung der Sozialversicherungen umgesetzt, die im Anschluss an die Krise der 1990er Jahre gefordert worden waren, als die Schweiz eine hohe Arbeitslosenquote zu verzeichnen hatte und die Invalidenversicherung (IV) als sozialer Puffer diente. Die Revisionen von IV und Arbeitslosenversicherung (ALV) können als Austeritätsmassnahmen im Sinne der liberalen Forderungen nach «weniger Staat» verstanden werden. Die Kürzungen in den Sozialversicherungen schlugen sich auf kantonaler Ebene prompt in höheren Kosten für die Sozialhilfe nieder.

Um aus der grossen Rezession herauszukommen, ohne die restriktive Fiskalpolitik infrage zu stellen, hat sich die EZB für eine expansive Geldpolitik entschieden. Das Quantitative ­Easing (quantitative Lockerung), bei dem die EZB durch den laufenden Erwerb öffentlicher und privater Wertpapiere riesige Liquiditätsbeträge ins System einschiesst, zielt darauf ab, Unternehmen und Haushalten wieder besseren Zugang zu Krediten zu ermöglichen und dadurch Konjunktur und Beschäftigung zu beleben. Aus Sicht der Kritik hat diese geldpolitische Strategie vor allem den Finanzmärkten genützt, ohne sich positiv auf die Realwirtschaft auszuwirken oder die gewünschten Ziele zu erreichen. In der Schweiz zwang das Quantitative Easing die SNB dazu, den Franken weiterhin durch diskrete Interventionen zu verteidigen, indem sie Euro aufkauft und eine Negativzinspolitik verfolgt, um dem Druck auf den Franken entgegenzuwirken. Da das Sozialversicherungssystem in den letzten zehn Jahren einen grossen Teil seiner Reserven an den Finanzmärkten angelegt hat, beeinträchtigen negative Zinssätze in erheblichem Mass seine Fähigkeit, den Verpflichtungen nachzukommen, insbesondere in Bezug auf die drei Säulen der Altersvorsorge. Im Gegensatz hierzu läutete der restriktivere geldpolitische Kurs, den einzelne Zentralbanken, allen voran die Federal Reserve, ab 2016 einschlugen, einen allgemeinen Anstieg der Zinsen ein. Das Quantitative Easing wurde durch Quantitative Tightening abgelöst. Nach Jahren negativer Zinsen dürfte diese neue Dynamik zu einer Entwertung der Anleihen führen, die von Grossanlegern wie den Pensionsfonds und dem AHV-Ausgleichsfonds gehalten werden. Bei steigenden Zinsen und damit einhergehendem Wertverlust der Anleihen verringert sich die Liquidität des Rentensystems, was die Auszahlung der Renten gefährdet. Um dieser Gefahr zu begegnen, besteht die Herausforderung auf der Einnahmenseite darin, Arbeitsplätze zu schaffen und dadurch die Beiträge und damit die Einnahmen zu erhöhen. Dies bedeutet auch, dass in einer zunehmend digitalisierten Wirtschaft neue Finanzierungsquellen erschlossen werden sollten, indem beispielsweise die Besteuerung von Robotern oder jenes Anteils an den Unternehmensgewinnen, der auf die Masse der benutzergenerierten Inhalte auf digitalen Plattformen zurückzuführen ist, in Betracht gezogen wird.

Literaturhinweise

Gallino, L. (2015). Il denaro, il debito e la doppia crisi. Torino: Einaudi.

Guex, S. (1998). L’argent de l’État: parcours des finances publiques au XXe siècle. Lausanne: ­Réalités sociales.

Varoufakis, Y. (2016). And the weak suffer what they must? Europe, austerity and the threat to global stability. London: Vintage Digital.

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